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Leitung
ETH Zürich
Prof. Dr. Ulrich Weidmann
Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT)
HIL F 13.1
Stefano-Franscini-Platz 5
8093 Zürich
Tel: +41 44 633 33 50
Fax: +41 44 633 10 57
Der Bahn wird eine gestärkte Stellung im künftigen europäischen Verkehrsmarkt zugesprochen. Die Nachfrage wird gemäß allen Prognosen in den nächsten Jahren stark ansteigen, insbesondere im Güterverkehr.
Überlastungserscheinungen zeigen sich bereits heute. Dazu zwei Beispiele:
Die Prognosewerte der schweizerischen Bahn 2000 sind bereits heute erreicht, punktuell übertroffen. Einzelne Netzteile sind systematisch überlastet, was zu regelmässigen Kundenbeschwerden führt.
Im Nordsee-Hinterlandverkehr ist die Bahn kaum mehr in der Lage, die stark steigenden Containermengen zeit- und qualitätsgerecht abzuführen. Im Jahre 2007 kam es zu einer ernsthaften Transportkrise.
Die Kapazitätserweiterung mittels klassischer Infrastrukturausbauten wird mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten können:
Die Mittel stehen nicht im nötigen Umfang zur Verfügung.
Der Zeitbedarf ist zu groß.
Im Hinblick auf die bereits hohe Fixkostenbelastung des Systems Bahn ist zudem auch im Interesse der Bahn selbst eine zurückhaltende Investitionstätigkeit anzumahnen.
Neue Betriebsführungsstrategien und Dispositionssysteme versprechen einen raschen und vergleichsweise kostengünstigen Ausweg aus diesem Dilemma.
Die Qualitätsanforderungen der Fahrgäste und Güterversender sind bereits hoch und werden künftig weiter ansteigen:
In den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist im Strassenverkehr mit der Einführung leistungsfähiger Verkehrstelematik-Systeme zu rechnen. Diese werden zwar nicht primär die Leistungsfähigkeit des Netzes erhöhen, aber eine neue Qualität der Verkehrsinformation bringen. Nebst detaillierten Zustandsinformationen sind auch zuverlässige, dynamische Prognosen und Routenempfehlungen zu erwarten. Diesen Stand erwarten auch die Fahrgäste des öffentlichen Verkehrs.
Zahlreiche Güterströme sind Bestandteil von Just-in-time-Produktionssystemen, welche auf eine absolute Verläßlichkeit des Transportes angewiesen sind. Verkehrstelematik und Dispositionssysteme des Strassengüterverkehrs werden die Fähigkeit des Lastwagens weiter steigern, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Der bereits heute spürbare Wettbewerbsnachteil des Bahngüterverkehrs in diesem Bereich droht sich zu verschärfen.
Auf eine weiter gesteigerte Qualität der Betriebsabwicklung sind aber auch die Bahnen selbst angewiesen, lassen sich doch die stets stärker vernetzten Angebotssysteme des Integrierten Taktfahrplanes anders nicht mehr stabil beherrschen.
Gefordert sind somit für die Zukunft eine höhere Qualität der Bahnangebote bei gleichzeitig gesteigerter Kapazität, und dies trotz limitiertem Anlagenausbau.
Qualität bedingt Stabilität und Robustheit des Gesamtsystems Bahn:
Stabilität ist die Fähigkeit des Systems, kleine Abweichungen in der Ist-Prozessabwicklung rasch wieder an die Soll-Prozessvorgabe heranzuführen.
Robustheit ist die Fähigkeit des Systems, seine Funktionen trotz Störungen und Ausfällen möglichst weitgehend zu erhalten.
Dazu stehen zahlreiche Maßnahmen des Angebotsgestaltung und der Betriebsführung zur Verfügung:
Stabil betreibbare Angebotskonzepte, insbesondere einfach strukturierte Linienkonzepte mit hohem Systematisierungsgrad. Vor allem ist die Zahl der angebotenen Direktbeziehungen kritisch zu prüfen und tendenziell zu minimieren.
Konfliktfreie Trassenkonstruktion.
Realistische Trassenkonstruktion mit angemessenen Reserven und Pufferzeiten am richtigen Ort.
Optimierte Umsteigebeziehungen mit leistungsfähigen Fahrgastanlagen und günstigen Türleistungsfähigkeiten.
Sorgfältige und langfristig stabile Abstimmung von Bau- und Erhaltungsplanung einerseits, Bahnbetrieb andererseits.
Personaleinsatzkonzepte mit risikomindernden Personalübergängen auf andere Züge; dadurch Minimierung des Risikos von Zugsausfällen durch fehlende Personalressourcen.
Leistungsfähige Dispositionsmittel.
Zeitnahe, präzise Führung der Züge entlang einer situativ optimierten Soll-Fahrlage.
Stabilität und Robustheit sind mithin Zielsetzungen, welche sich nur durch konsequenten Berücksichtigung im gesamten Fertigungsprozeß von der konzeptionellen Planung bis zur operativen Durchführung erreichen lassen.
Die Planung stabiler, robuster Angebotssysteme ist extrem anspruchsvoll:
Änderungen am bisherigen Angebot stoßen auf den Widerstand von FahrgÄsten, welche bisherige Direktbeziehungen verlieren.
Systematisierte Güterzugskonzepte vermögen den spezifischen logistischen Kundenbedürfnissen bisweilen nicht zu genügen. Gewünschte Bedienungszeiten können nicht vollumfÄnglich gewÄhrleistet werden.
Die Planungsprozesse des Personen- und Güterverkehrs unterscheiden sich heute und werden dies auch in Zukunft tun.
Die national ausgerichteten Angebotssysteme des Personenverkehrs sind international oft nicht kompatibel; damit lassen sich grenzüberschreitende schnelle Angebote nur schwer entwickeln.
Die internationale Planung ist der nationalen Planung oft nachgelagert.
Bei den Planungsprozessen und Planungsinstrumenten besteht somit noch ein erheblicher Verbesserungsbedarf. Interoperabilität ist mithin nicht nur eine technologische Frage, sondern auch eine solche der Angebotskonzepte und Angebotsplanung!
Qualität heißt für Fahrgäste und Güterkunden:
Pünktlichkeit
Garantierte Transportketten
Mangelnde Qualität äußerte sich bisher in verlorenen Kunden und Markterträgen. Punktuell wurden zudem bereits Regionalverkehrsbestellungen mit Bonus-Malus-Systemen ergänzt, welches zu erheblichen Strafzahlungen zulasten der Bahnen führten.
Das dritte Eisenbahnpaket sieht die systematische Einführung von Pönalen für Verspätungen vor. Unpünktlichkeit mangels Stabilität und Robustheit wird somit künftig das Betriebsergebnis der Bahnen noch erheblich stärker und ganz direkt beeinträchtigen. Unpünktlichkeit wird EBIT-wirksam!
Ein zentrales Instrument zur Gewährleistung der Pünktlichkeit respektive der Qualität sind die Dispositionssysteme.
Stand der Technik sind folgende Funktionalitäten:
Überwachung der Betriebslage
Erkennung von Soll-Ist-Abweichungen
Konflikterkennung
In Entwicklung befindet sich die lokale Konfliktlösung.
Herausforderungen der Zukunft sind:
Prognose der Konfliktpropagation respektive der Konfliktausbreitung über das ganze Netz sowie die Folgekonflikterkennung
Bestimmung der global optimalen, netzweiten Konfliktlösung
Einbezug der Energie-Optimalität in die Disposition
Die netzweit optimierte Disposition gehört aufgrund ihrer Komplexität zu den anspruchsvollsten Optimierungsaufgaben!
Der Nutzen einer optimierten Disposition entscheidet sich im Umsetzungsprozeß. Die wesentlichen beteiligten Akteure sind:
Dispositionspersonal als Bediener der Dispositionssysteme und Entscheider
Zugspersonal mit dem Kundenkontakt
Lokpersonal mit der Aufgabe der bestmöglichen Fahrzeiteinhaltung
Alle drei Akteure können ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Erreichbare, realistische Ziele als Resultat einer hochwertigen Angebots- und Betriebsplanung
2. Hilfsmittel zur Einhaltung der Planvorgaben in Form einer zeitnahen und detaillierten Soll- und Ist-Information
Dies bedingt die Einbindung aller Akteure in einen Regelkreis.
Bei der gegenwärtigen Weiterentwicklung der Dispositionssysteme zeichnet sich ein Paradigma-Wechsel ab:
Bisher: Erkennung von Soll-Ist-Abweichung und Wiederangleichung des Ist-Betriebes an die Soll-Vorgaben.
Künftig: Neuplanung des Systems unter Berücksichtigung des reellen Betriebszustandes und Überführung der Züge in neues Optimum.
Dies erfordert die Fähigkeit, das Gesamtsystem oder sinnvolle Teile desselben während des laufenden Betriebes innert kurzer Zeit neu zu planen und zu optimieren. Herausforderungen sind dabei:
Geeignete Algorithmen
Genügende Rechnerleistungsfähigkeit
Leistungsfähiger Informations-Regelkreis mit Einbindung aller Akteure
Erste Prototypen zeigen, daß diese Ziele anspruchsvoll, aber erreichbar sind.
In jedem Dispositionssystem liegt die letztgültige Entscheidung beim Menschen. Dies wird auch bei künftigen Systemen nicht anders sein.
Dispositionssysteme wandeln sich indessen mit der genannten Entwicklung zunehmend von Informations- zu Entscheidungssystemen. Sie übernehmen damit immer mehr Funktionen, welche bisher zur Kernkompetenz von Disponenten zählten. Die Frage stellt sich, ob damit nicht der Beruf des Disponenten schleichend entwertet wird.
Dazu eine Analogie: Dispositionssysteme zur Optimierung der Routenplanung von Lastwagenunternehmungen stoßen auf den Widerstand der bisherigen Disponenten, da diese den Verlust ihrer Position und eine Abwertung ihrer Stellung befürchten. Die Einführung solcher Systeme kommt daher nur schleppend voran.
Sollen neue Bahn-Dispositionssysteme erfolgreich eingeführt werden, so kann dies nur gelingen, wenn das betroffene Personal diese positiv wahrnimmt und als Verbündete mitwirkt. Andernfalls wird der Nutzen der neuen Technologie nicht zum Tragen kommen.
Die Evaluation der Qualität der effektiven Betriebsdurchführung muß der Präzision der Dispositionsanweisungen und der Betriebsdurchführung selbst angemessen sein.
Die konventionellen Verspätungsmasse sind dazu viel zu global und zu grobkörnig.
Zeitgemäße Dispositionssysteme und ihre Informationsregelkreise liefern indessen die nötigen Datengrundlagen. Durch zielgerichtete Analysen lassen sich die entscheidenden Schwachstellen der Produktionsprozesse erkennen und auf ihre Ursachen zurückführen. Damit werden diese Informationen für die Neuplanung der Angebote nutzbar und der Planungs und Produktionsprozeß wird zum selbstlernenden System.
Weiterentwickelte Dispositions- und Informationssysteme können in Zukunft einen maßgebenden Beitrag zur Steigerung von Kapazität und Qualität des Bahnangebotes leisten. Der Stand der Entwicklung erlaubt bereits heute einen Nutzen.
Wesentliche Elemente der Weiterentwicklung sind:
Höhere zeitliche und örtliche Auflösungsschärfe im gesamten Regelkreis: Von der Minute zur Sekunde und vom Kilometer zum Meter.
Die Bahn verkehrt immer nach Plan: Entweder nach dem alten oder nach einem neuen.
Voraussetzung zur Nutzung der Potentiale dieser neuen Verfahren ist die Fähigkeit, den konkreten Bahnbetrieb entlang dieser viel präziseren Vorgaben durchzuführen. Erforderlich ist damit auch bei der Betriebsdurchführung der Schritt vom Denken in Minuten zum Denken in Sekunden.
Die Einführung neuer Dispositionssysteme ist damit nicht nur eine große technische, sondern insbesondere auch eine kulturelle und soziale Herausforderung!
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